anette herbst, ah-effekte

Willkommen auf ah-effekte, der persönlichen Homepage von Anette Herbst und der Schnürliprinzessin!

Herbst in Basel

aus dem gleichnamigen Buch von ah., welches pünktlich zum Herbst 2010 beim Knapp-Verlag erscheinen wird

Hin und wieder werde ich gefragt, wann und wie ich nach Basel kam. Manchmal erreicht mich die Frage auch knapper: „Warum Basel?“ Und dann fällt mir wieder ein, dass nicht ich die Stadt gewählt habe, sondern die Stadt mich. Und es fällt mir ein und wieder auf, dass das schon immer so gewesen ist. Mit allen Städten, allen Orten. Ich wurde sozusagen jeweils dorthin katapultiert. Zum ersten Mal nahm ich im Jahre 1990 auf diesem Schleudersitz Platz. Der Beruf der Schauspielerei rief und schleuderte mich nach Landshut. Sanfte Landung. Kein Kunststück. Die niederbayrische Stadt ist lediglich ein paar Steinwürfe von meinem Geburtsort entfernt.

Landshut. Ich erinnere mich gut. Denn: Obwohl noch im heimatlichen Bundesland, dem strengen Freistaat, verstand ich anfänglich kein Wort. So sehr ich mich konzentrierte und die Ohren spitzte, ich wurde das Gefühl nicht los: Die Leute hier sprechen nicht – sie bellen! Im eigenen Land die Sprache nicht zu verstehen macht unsicher und nervös. So kam es, dass ich mich, kaum angekommen, auch schon unbeliebt gemacht hatte. Der Vermieter meines Zimmers zeigte mir die Räumlichkeiten, erklärte mir die Kaffeemaschine, die Badezimmerzeiten… Ich stand dumm lächelnd im Raum, verstand keine Silbe und hörte mich plötzlich sagen: „Entschuldigen Sie, aber ich bin dieser Sprache nicht mächtig“, und konnte selber nicht fassen, dass solch ein Satz – noch dazu in gestochenem Bühnendeutsch – soeben meinen Mund verlassen haben sollte.

Der Busfahrer (es war tatsächlich immer derselbe), der mich jeweils vom Theater ins möblierte Zimmer fuhr und umgekehrt, versuchte mir jedes Mal wenn ich einstieg und eine Fahrkarte bei ihm löste, etwas zu erklären. Ich nickte und lächelte stets höflich, liess ihn bellen und hatte keinen Schimmer, was er von mir wollte.

Das ging einige Wochen so. Bis zu dem Tag, da ich endlich verstand, dass er mir all die Zeit, geradezu väterlich, lediglich eine günstige Mehrfahrtenkarten hatte empfehlen wollen. Von da an hatte ich die Niederbayern richtig gern. Gelernt hab ich in dieser Gastspielzeit ausserdem, dass der Niederbayer den Ausdruck „Arschloch“ oft gebraucht, ein Arschloch jedoch ein Herzensmensch ist, also eben kein Arschloch im Sinne der Gebrauchsweise übriger (Bundes-) Länder.

Es kam der Tag, da auch in Landshut das Katapult gespannt und bereit auf meinen Hintern wartete und mich diesmal kilometerweit zu verschleudern wusste. Ich landete um Haaresbreite –platsch!- in, letztlich jedoch AN der Ostsee in einem Fischerdorf. Von da an war sie losgetreten und einer Lawine gleich nicht aufzuhalten, die Zeit der Ortswechsel. Mein Leben wurde zum Nord-Süd-Gefälle.

In Welt bin ich gewesen. Nicht der, sondern dem. Einem fast gottvergessenen, malerischen Ort in Nordfriesland. War im braunen Celle, im Bierdunst Hamburgs, in der Kinderwagenstadt Winterthur, dem exotisch klingenden Malente und, und…

… und wurde schliesslich in die Stadt Basel katapultiert, dieser ganzen Stadt im halben Kanton und das mitten im Herbst. Streng genommen ist mein erstes Dahingeschleudertsein ein Besuch auf Probe gewesen. Ich war zu einem Test eingeladen worden. Die Strassenbahn – Äxgüsi – das Tram, welches mich zu diesem Test fuhr, trug die Nr. 15, zog quietschend einen Berg hoch und durch ein Waldstück hindurch. Eine Automatenstimme sagte „Wolfschlucht“ und ich klemmte deutsch und heimlich ein ‚s’ zwischen den Wolf und seine Schlucht, bevor ich aus dem Fenster staunte und „Welch malerischer Arbeitsweg“ dachte. Der Test wurde ein herrliches Erlebnis. Man hatte mich an ein Pult mit unzähligen Knöpfen und Hebeln gesetzt. Ich fühlte mich wie in einem überdimensionalen Cockpit eines Flugzeuges und kaum dass mir das Knöpfeln und Hebeln erlaubt wurde, hob meine Kinderseele auch schon strahlend ab. Pilot sein war immer schon mein Traum gewesen. Wäre ich damals durchgerasselt, zum nächsten Ort katapultiert worden, mit nur dieser einen, kleinen Begebenheit im Gepäck, ich würde dennoch von der Stadt Basel schwärmen – obgleich ich an jenem Tag nichts weiter von ihr gesehen hatte. Das Cockpit jedoch wurde tatsächlich mein Arbeitsplatz und ich ging ‚on Air’. Nach einigen ‚Blindflügen’ kamen die ‚Nachtflüge’ und an einen dieser ‚Nachtflüge’, oder besser an das, was danach kam, erinnere ich mich besonders gern. Das letzte Tram, welches mich jeweils vom ‚Hangar’ bergabwärts brachte, trug stets die Nr. 5 und fuhr mich zu dieser nachtschlafenden Zeit gewöhnlich beinah bis vor die Wohnungstür. Einsteigen, nach wenigen Metern zwischen ‚Wolf’ und ‚Schlucht’ heimlich ein ‚s’ schieben, durch die Fenster in die Nacht hinaus träumen, all das war längst schon liebgewordenes Ritual. Alles schien wie immer. Die Automatenstimme informierte zuverlässig über den Standort, sagte irgendwann „Bankverein“ und schob ganz unvermittelt ein „Endstation. Bitte alle aussteigen“ hinterher. Aussteigen? Hier? Eigenartig. „Gut“, dachte ich, „geh ich eben rasch durch die Stadt zu Fuss nach Hause.“ Die Nacht war mild, der Weg nicht weit. Ausserdem war ich ja Pilot und hatte fliegen gelernt. Ich lief die Freie Strasse hinunter und fand mich plötzlich inmitten einer Phantasiewelt wieder. Ganz so, als hätte ich soeben einen fernen Planeten betreten. Da liefen in tranceähnlichem Rhythmus Gestalten fremder Galaxien in Gruppen formiert, pfeifend und trommelnd. Die Wege waren mit einem dichten Konfettiteppich gepolstert, der alles dämpfte und traumhaft erscheinen liess. Ich stand wohl einfach da mit offenem Mund und muss ein seltsames Bild abgegeben haben. Am liebsten hätte ich umgehend irgendjemandem davon erzählt. Ein Stell-dir-vor in irgendeine Leitung gerufen. Aber es war mitten in der Nacht. Ich konnte meine Faszination im Augenblick nicht teilen und letztlich war auch nicht in Worte zu fassen, was ich da gerade mit allen Sinnen erleben durfte.

Meinen Plan, mal eben rasch über den Marktplatz nach Hause zu laufen, musste ich ebenfalls verwerfen. Es gab kein Durchkommen. So bahnte ich mir meinen Weg den Spalenberg hoch, Schritt für Schritt weiterstaunend. Oben angekommen wurde es lichter und mit einem Mal bogen aus einem Gässchen wie ferngesteuert zwei Gestalten, langsam vorwärtsschreitend. Die eine pfiff, die andere trommelte. Fürwahr ein poetischer Moment, der mich tief berührte.

Noch als ich im Bett lag schritten die Wesen durch meine Gedanken. Alle Faschingsvermeider und Karnevalsverweigerer hab ich seitdem zur Basler Fasnacht zu bekehren versucht. Sie ist nicht von dieser Welt, sondern galaktisch und poetisch ohne Ende.

Das waren meine ersten Monate in Basel und es sollten unzählige folgen. Basel ist mir ans Herz gewachsen. Ich mag den Himmel über dem Rhein, die Fähren darunter, geniesse die Offenheit und freue mich jedes Jahr auf’s Neu auf die Herbstmesse.

Hier in dieser ganzen Stadt im halben Kanton erhole ich mich seit Jahren von meinem Schleudertrauma, welches ich genaugenommen nie hatte, aber es passt so gut an den Schluss meiner Hommage.


Suche: