Sinette, komm ran!
Eine Geschichte mit viel „und“
und gewissermassen die Fortsetzung von
„Das kleine Hallo“
Juli 2011, ah.
April 2020 zum 11. Vogelgeburtstag überarbeitet
(und als Ohrfussel eingelesen)
Seit kurzem habe ich einen neuen Namen. Wir haben ja auch ein neues Kind. Das heisst, ganz so neu ist es nicht mehr. Also von vorn: Das kleine Hallo, welches vor Jahren einmal eine Geschichte füllte, ist längst ein grösseres Hallo und obendrein eine leidenschaftliche Sängerin, mit Vorliebe für „Fröhliche Weihnacht üüüüüberall“ an heissen Sommertagen, oder „Zum Geburtstag viel Glück“ an allen Tagen. Und jenes kleine Hallo, das nun ein grösseres ist, hat seit zwei Jahren ein Geschwister, das auch ein kleines Hallo hätte werden können, sich jedoch entschied, ein zarter, schmaler Vogel zu werden. Und ich schwöre, so herrlich krakeelen und in höchsten Tönen Wörter ausprobieren, kann keiner betörender, als dieser zarte, schmale Vogel. Alles an ihm ist anders. Er kam mit dem Hintern voran auf diese Welt und das in aller Ruhe und Behutsamkeit. Und bitte! Das kann nicht jeder, denn mit Hintern voran kommt man nicht mal eben einfach so auf die Welt. Bei „Hintern voran“ steht normalerweise die Welt Kopf, weil sie sich in helle Aufregung versetzt sieht und darum sogleich mit Schläuchen hantiert, Gerätschaften anschleppt und Scheren schleift. Den zarten, schmalen Vogel hatte das nicht gekümmert, er hatte von alledem nichts gewusst und blieb dabei, Hintern voran die Welt zu begrüssen. Und Hintern voran heisst Hintern voran, denn die Beine sind nach oben vor den Bauch geklappt. Dann rutschen sie nach. Die Arme liegen eng am Körper, und das nur so lange wie die Hebamme Geduld hat. Berührt sie den herausschlüpfenden Körper zu früh, macht es ZONG, die Arme klappen nach oben und haken sich unfreiwillig fest.
In unserem Fall war Geduld eimerweise vorhanden. So kamen die Arme und schliesslich der Rest bis auf den Kopf, der zunächst feststeckte, was, wenn man die Lage bedenkt, nicht weiter verwunderlich ist. Dank jener fürsorglichen Hebammenhände schaffte es letztlich auch der Kopf. Der Vogel war geschlüpft und beinah über und über mit Flaum bedeckt. Zartes braucht natürlichen Schutz. Wenn der kleine Vogel heute Mützen trägt, die aufgrund ihrer Krempe eher an Hüte erinnern und ihn vor Sonne oder Regen schützen sollen, dann erinnert er an Calimero. Calimero aus Palermo. Schon vergessen? Oder haben Sie 1974 noch gar nicht gelebt? Sagen Sie bloss! Gut, dann sei hier kurz erklärt: Calimero ist ein schwarzes Küken mit einer Eierschale auf dem Kopf. Es lebt in Palermo und besteht gemeinsam mit seiner Freundin Priscilla zahlreiche Abenteuer. Das kann unser Vogel auch. Gemeinsam mit dem kleinen Hallo, das nun ein größeres ist, aber auch alleine. Völlig alleine. Und zwar absichtlich völlig alleine.
Zum Beispiel unlängst unten im Hauseingang. Da stand der zarte, schmale Vogel an die Hauswand des Flures gelehnt und in seiner Regenmontur stark an Calimero erinnernd. Ich hörte ihn von oben und ging nachsehen. Er jammerte vor sich hin. Mal etwas herzzerreissend, mal wenig motiviert. Ich trat näher. „Calimero“, wollte ich sagen, „kann ich helfen?“ Gesagt habe ich „Hallo, du“ und ging in die Knie, um dem Vogel auf Augenhöhe begegnen zu können. Er lächelte und seine Augen glänzten. Ein bisschen kam das von den zuvor vergossenen Tränen, aber vor allem, weil diese Augen glänzen können. Dann schubberte sich der Vogel an der Hauswand verlegen den Rücken und lächelte weiter. „Was machst du hier? Wolltest du raus? Kommst du von draussen? Wartest du auf wen?“ Der Vogel dachte sicher, ich hätte einen Vogel, ihm so viele komplizierte Fragen zu stellen und dann in diesem Tempo. Gesagt hat er nichts. Er lächelte weiter und schubberte sich weiter und sah auf meinen Mund, offenbar gespannt, ob dieser gleich wieder losplappern würde. Und wie ferngesteuert tat er das auch. „Möchtest du nach oben? Soll ich dich hoch begleiten?“ Dann stockte ich. Zwei Vogelaugen mit Wimpern, die jedes Werberherz zum zerbersten brächten, glänzten mir entgegen, während der Rest lächelte. „Sag mal, verstehst du überhaupt was ich da sage?“ – „Nai!“ sagte der Vogel knapp und bestimmt und lächelte glänzend weiter. Dann begann er sich von seiner Regenmontur zu befreien. Zuerst zog er den Calimerohut ab, dann die Regenjacke und noch eine Jacke, so dass schliesslich zwei Vogelärmchen aus einem T-Shirt schauten und ein lustig gewellter Flaum den Kopf umspielte. Beinah hätte ich mein Vorhaben vergessen. Ich wollte in den Supermarkt bei uns am Platze. Aber konnte ich das jetzt noch? Einfach gehen? Und den Vogel alleine zurücklassen? „Hörmal, ich geh jetzt rasch einkaufen … möchtest du wirklich hier warten? Hältst du das aus?“ Erwachsensein fühlt sich manchmal richtig beschissen an. Die Augen glänzten, der Rest lächelte. Ich also Tür auf und raus. Schlechtes Gewissen inklusive. Im Supermarkt traf ich die Vogelmama zusammen mit dem kleinen Hallo, das nun ein größeres ist. Herrje, sie hatte nicht gewusst, dass der zarte, schmale Vogel offenbar das „Nest“ alleine verlassen hatte.
So zügig hatte ich noch nie sieben Sachen eingekauft und bin zum Haus zurückgeeilt. Ich lugte durch’s verglaste Gitter der Haustüre. An der Innenseite lehnte der Vogel, schubberte sich und jammerte wenig motiviert vor sich hin. Ich klopfte. Der Kopf drehte sich mir entgegen. Dann das vertraute Lächeln. Ich öffnete die Tür und nun war klar, der zarte, schmale Vogel hatte genug von diesem Flurabenteuer. Es war ausgereizt und sollte nun Eins-Zwo, Eins-Zwo ein Ende finden, und zwar ein glückliches. Und das konnte ich verstehen. Immerhin hatte er, vom wiegenden Schubbern abgesehen, die ganze Zeit aufrecht im Flur gestanden und jammern kostet Energie und noch nicht gross genug sein, um durch’s verglaste Gitter der Haustüre blicken zu können kostet Nerven. Keine Frage. Doch die Erlösung bog bereits um die Ecke: Die Mama zusammen mit dem kleinen Hallo, das nun ein grösseres ist. Der zarte, schmale Vogel durfte auf den Arm. Das Glück war unbeschreiblich. „Sineeeeette!!“ rief es aus ihm, „Sinette, komm mit!“ Und ich ging mit hoch bis vor die Wohnungstür, wurde vom Hallo und vom Vogel mit gerade zu Geschenken ernannten Dingen überhäuft und dachte:
Eines Tages wird dieser zarte, schmale Vogel ein grosser, schöner Knabe sein und ganz einfach „Anette“ sagen, meinen furznormalen Namen, und ich werde traurig sein, weil ich weiss, dass damit ein kleiner Vogelzauber unwiederbringlich zu Ende sein wird.