Wanda
ah im März 2014
Samstagmorgen 10 Uhr. Auf Gleis 4 rollt der ICE der Deutschen Bahn ein. Nächster Halt: Zürich.
Erstaunlich, wie viele Menschen ausgerechnet heute und um diese Zeit in diese Richtung wollen oder müssen.
Menschen mit und ohne Gepäck, mit und ohne Partner, mit und ohne Kinder, oder als Gruppe.
Ich wähle, wie so oft, den letzten Wagen. Das hat zwei Gründe: Erstens findet man dort meist noch einen Vierer für sich allein. So ein ICE-Vierer ist praktisch, denn er bietet einen richtigen Tisch, zum Schreiben, Lesen, Essen und Trinken oder einfach zum Lümmeln. Zweitens entgleist der letzte Wagen eines Zuges nie. Das ist auch praktisch, aber vor allem Physik.
Und tatsächlich: Der Tag meint es gut mit mir! Ein Vierer ist noch gänzlich unbesetzt. Ich atme erleichtert auf und richte mich ein. Kaffeebecher und Sandwich auf den Tisch, Jacke an den Haken mir gegenüber, Tasche links von mir auf den Sitz. Ich selber setz mich auf den Fensterplatz in Fahrtrichtung rückwärts. Das ist praktischer für die Augen und Biologie.
Der Zug rollt los. Alles ist gut.
Kurze Zeit darauf fragt jemand: «Sind die Drei noch frei?» Mein «Ja» entweicht mir ungern. Tasche auf den Boden unter mir, Jacke rechts neben mich. Und schon bin ich umzingelt von einer Frau, die sich neben mich setzt und zwei Mädchen, die mir nun gegenübersitzen. Und das für die nächsten 53 Minuten. Die Frau ist die Mutter der beiden Mädchen und alleinerziehend – wie sich herausstellen soll. Das kann auch praktisch sein, ist aber vor allem Psychologie.
Mir direkt gegenüber sitzt Wanda, geschätzte acht Jahre alt. Neben ihr und damit ihrer Mama gegenüber sitzt Zora, seit vergangenem Schulanfang Erstklässlerin und damit wohl sechs Jahre und ein paar Monate dazu.
Mein Sandwich schmeckt mit einem Mal nicht mehr ganz so köstlich wie zu Beginn der Reise, der Kaffee im Becher lauwarm.
Zora hat Durst. «Was möchtest du denn trinken?» möchte die Mama wissen. «Orangensaft». «Wenn das Wägeli kommt, dann kauf ich dir einen.» Wasser, meint die Mama ergänzend, habe sie dabei. Zora schüttelt den Kopf und lässt ihre rosarote Lokomotive auf dem Tisch lustlos hin und her fahren. «Lies deine Bücher. Wozu hab ich sie denn mitgenommen.» Zora reagiert nicht und lässt ihre Lok kreisen. «Du weißt, dass ich gegen dieses Plastikzeug bin», hör ich die Mama.
Wanda möchte ihr Strickzeug. Sie hat sich vorgenommen eine Mütze zu stricken. Wer die neonfarbene Wolle in Grün (oder ist das Gelb?) gewählt hat, bleibt verborgen. Sie beginnt ihre dritte Reihe zu stricken. Mama zieht eine Art Programmheft aus ihrer Tasche und fragt Wanda wie denn der Film gewesen sei. Wanda war offenbar begeistert. Zora möchte mehr erfahren. «Mama, kannst du mir das vorlesen?» – «Nein. Ich möchte jetzt selber lesen. Und wenn du was lesen willst, dann nimm deine Bücher.» Wanda zählt die Maschen auf ihrer Nadel. Dann noch einmal. Und noch einmal. «Mama, kannst du mir bitte helfen! Ich zähle 22 und ich wollte doch nur 20!» – «Wanda, das ist dein Ding. Ich kann nicht stricken und mag nicht stricken und das weißt du auch. Lass mich bitte in Ruhe damit.» – «Aber ich krieg immer eine andere Zahl raus. Ich blicke überhaupt nicht mehr durch.»
Sie reicht ihrer Mama das Strickzeug. «Du musst einfach zwei wegstricken, aber das wird nicht schön aussehen. Schau mir bitte zu!» Wandas Mama nimmt zwei Maschen ab und verwurstet sie irgendwie an den bereits gestrickten Reihen. Eine Wulst entsteht. Sie habe das im Internet, via youtube, nachschauen müssen. Weil eben, wie sie noch einmal betont, stricken überhaupt nicht ihr Ding sei. Sie gibt Wanda das Strickzeug zurück und Wanda strickt weiter.
«Möchtest du deinen Hasen, Zora?» Zora nickt. Zora erhält einen gebackenen Hasen auf die Hand. «Gell, so sitzt er?» will sie noch wissen, bevor sie ihm das Ohr abbeisst. «Ja, genau», meint Mama ohne hinzusehen. Zora nagt genüsslich an dem Hasengebäck und auf den Tisch kullern Zuckerkügelchen wie Hagelkörner. Wanda hätte auch gern „ihren“ Hasen. «Du musst erst noch die Nadel fertigstricken», erklingt es neben mir. Als Wanda das geschafft hat, erhält sie ihren Hasen – mit Tüte! «Kannst du ihn bitte so essen, dass die Krümel in die Tüte fallen!» Das war keine Frage seitens der Mutter. Wanda runzelt die Stirn. «Ist es auch o.k., wenn sie AUF die Tüte fallen?» Keine Reaktion.
Zora versucht den Hasenrest als Lokomotivführer zu installieren. «Zora, lass das, das ist eklig. Das hast du von der Strasse aufgelesen!» – «Das hatte grad jemand rausgestellt, als sie es entdeckte», schützt Wanda ihre Schwester. Die Mutter: Keine Reaktion. Wanda ist offenbar der Typ, der keinen Krümel verkommen lässt und klaubt nach den hagelförmigen Zuckerkörnern. «Wanda! Ich möchte nicht, dass du Zucker schleckst!»
«Mama, ich hätt’ gern nen Orangensaft.» Zora schaut ihre Mama hoffnungsvoll an. «Waaas? Ehrlich? Hättest du gern einen Orangensaft? Das hör ich zum ersten Mal.» Mit diesen Worten hat sich die Mutter mit dem Oberkörper weit über den Tisch gebeugt, so dass zwischen ihrem und Zoras Gesicht gerade noch zwei Finger breit Platz haben. Zora lächelt verlegen. Ihr ist unwohl. «Gell, Mama, du machst’n Witz.» Keine Reaktion.
«Ich habe Durst!» meldet sich Zora erneut. Mama zieht eine dieser SIGG-Flaschen aus ihrer Tasche. Mehr als ein halber Liter haben in jener keinen Platz. Sie öffnet die Flasche und setzt sie sich selber an den Mund und trinkt… und trinkt. Dann erst reicht sie sie Zora. Und Zora trinkt und trinkt. Der Flasche ist anzuhören, dass sie kaum noch Wasser übrig hat. Und Wanda? Sie erhält einen kläglichen Rest. Klaglos.
Die Hasen sind vertilgt. Die Flasche leer. Die Reihe zu Ende gestrickt. «Mama, wie muss ich jetzt weitermachen?»
Gönnerisch nimmt die Mutter das Strickzeug entgegen. «Schau bitte her, Wanda! Man strickt zwei Maschen zusammen.» Sagt’s und tut’s. «Ahja, genau», meint Wanda. Ahja, genau, denk auch ich und erinnere mich, dass so das Abnehmen geht, beim Stricken jedenfalls. Wanda übernimmt wieder und zählt zur Sicherheit noch einmal nach. «Jetzt sind es 18!» Wanda ist fassungslos. «Mama! Jetzt sind es 18!» Keine Reaktion. «Du musst das reparieren! Es sind 18!» – «Wanda, lass mich jetzt bitte in Ruhe damit. Ich hab dir gesagt, dass ich nicht stricken kann und nicht stricken will!» – «Aber du hast den Fehler gemacht. Jetzt musst du’s reparieren!» – «Es ist dein Strickzeug und wenn du jetzt keine Ruhe gibst, dann kommst du nicht mit uns mit!» – «Halt die Fresse», rutscht es Wanda raus, die völlig überwältigt ist von ihren Gefühlen aus Wut und Enttäuschung. «Wanda! So redest du nicht mit mir. Gib das Strickzeug her!» Wanda wirft Wollknäuel und die Nadel mit den verhunzten Reihen Richtung Mutter. Beides landet im Gang neben ihr auf dem Boden. Die leere Nadel zum Weiterstricken hat Wanda noch in der Hand. «Gib die Nadel her!» Wanda presst ihren Körper in die Rückenlehne ihres Sitzes, die Hand mit der Nadel versucht sie seitlich zu verstecken. Die Mutter streckt ihren Arm quer über den Tisch. Die Finger ihrer Hand machen winkende Bewegungen. «Eins… Zwei…» Da wirft Wanda die Nadel von sich. Sie landet in der Ritze zwischen meinem Sitz und dem der Mutter. Dann möchte Wanda nur noch eines: Weg. Und zwar schnell. Sie zwängt sich an der Schwester vorbei und sucht nach einem Ventil ihrer Enttäuschung Luft zu machen. In den leeren Zweierreihen klappt sie die Tischchen runter und wieder hoch. «Wanda, hör sofort auf. Das stört! Setz dich wieder hin.» Wanda kann nicht. Sie klappt noch ein paar Tischchen runter und rauf und setzt sich schliesslich in eine der Zweierreihen, in schützender Distanz zur Mutter.
Zora ist irritiert, hat auf Wandas Sitz platzgenommen und zieht zu ihrer Sicherheit ein Lucky Luke Heft aus ihrem Rucksack, um sich dahinter zu vergraben.
«Geschätzte Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Zürich Hauptbahnhof. Endstation. Wir bitten alle Reisenden auszusteigen und verabschieden uns von Ihnen.»
Zora lugt hinter ihrem Heft hervor. «Mama, müssen wir jetzt aussteigen?» Keine Reaktion. Zora versucht es stimmlich vorsichtiger. «Mama, müssen wir jetzt aussteigen?» Keine Reaktion.
Wanda hat es irgendwie geschafft, sich in der Zwischenzeit ausstiegsfertig zu machen und geht schon mal zur Tür. Sehr gut. Blitzschnell schlüpfe ich in meine Jacke, sammle meine Sachen zusammen, nötige die Mutter mich vorbeizulassen und gehe zu Wanda. «Wanda», sag ich, «ich kann deine Reaktion gut verstehen. Ich wäre auch sehr enttäuscht und wütend über die 18 Maschen.» Wandas Gesicht entspannt sich und sie lächelt mich erleichtert an. Auf dem Bahnsteig dreh ich mich noch einmal zu ihr. «Alles Gute, Wanda!» – «Danke, das wünsch ich Dir auch.»