anette herbst, ah-effekte

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Den Zauber zerkaut

Fundstück aus dem Jahr 2009

Kaum, dass sie den Raum betritt, ein paar Schritte den Mittelgang entlanggeht, um schließlich in der Bank vor ihm Platz zu nehmen, hält er sie im Blick und sie seine ganze Aufmerksamkeit. Ihm ist, als habe sich durch ihr Erscheinen auch das Licht im Raum verändert, als sei es wärmer geworden. Diese aufrechte, junge Erscheinung sitzt nun in seinem rechten Augenwinkel. Ihr Gesicht wie aus Stein gemeißelt, die Haut reiner Marmor. Alles an ihr ist anmutig und schön. Sie erscheint ihm wie aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit. Sie ist nicht angezogen, sie ist gekleidet. Immer wieder betrachtet er ihr Gesicht, begleitet von barocker Kirchenmusik, die mehr und mehr im Hintergrund verschwimmt. Er betrachtet ihr Haar, als lerne er Strähne für Strähne auswendig, während das Ensemble »Verba mea auribus percipe« singt. Wie sie ihren Kopf zu drehen versteht. Wie ihre Augen blicken. Welch ein Geschöpf. Wer könnte es erfassen, beschreiben, greifbar machen. Ihr Mund, ihre Lippen – einem Gemälde gleich. Dann senkt sie den Kopf, um einen Augenblick später ein Etwas in ihrer weichen Hand zu bergen. Er schließt die Augen, um sich in der Toccata in G zu sammeln. Als er sie öffnet ist sein Bild gebrochen. Der Mund, auf dessen Lippen sein Blick schier versank, kaut nun Kaugummi. Da war es zurückgekehrt: Das einundzwanzigste Jahrhundert mit all seinen modernen Banalitäten und Grobschlächtigkeiten. Und da nimmt er auch endlich den Jüngling an ihrer Seite wahr, der nun mit ihr verliebt lachend die Kirche verlässt, nachdem das »Cantate Domino« und mit ihm der Applaus verhallt war.


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